Serie: 125 JAHRE RENAULT

125 Jahre Renault - Folge 7: Selten wie Goldstaub - der R10

Heckantriebe waren in den Fünfzigern weit verbreitet - um nicht zu sagen: "State of the Art". Bei Renault endete die Heckmotor-Ära in der Großserie mit dem Renault 8/10 Anfang der Siebziger. Lediglich der klassischen Alpine A110 waren noch ein paar Jährchen vergönnt.Ivars 22 RenaultWEB
Streckbank: Der Renault 10 (vorn) mit Brüderchen R8. Deutlich zu sehen ist die Verlängerung des Vorderteils.
Foto: Anders Svensson


Eine lange Schnauze mit schielenden Augen und vielen Ecken. Der mittlere Körperteil aufrecht, sehr aufrecht. Offensichtlich war hier ein Formgeber am Werk, der gewöhnlich Schrankwänden eine Gestalt gibt. Vier Türen, immerhin. Auch diese streng geometrisch gezeichnet. Das Spaltmaß der Karosse ist nicht ganz so geometrisch exakt, aber darüber kann der gewöhnliche Renaultist leicht hinwegsehen. Das Heck im 90-Grad-Winkel sehr harmonisch an den Rest angepasst. Es blubbert und summt darin. Da wird doch nicht? Doch, da ist. Da ist ein Motor versteckt, ganz ohne Zweifel. Wie weiland also im treuen deutschen VW werkelt auch hier das Antriebsgerät im Heck. Man sagt, dies sei nützlich für die Fahreigenschaften im Winter und schone die Ohren der vorderen Fahrgäste – schließlich summt das Motörchen etwa zwei Meter hinter und nicht direkt vor der Fahrerkabine.
Ob es in der Dordogne oder an der Cote d´Azur einen strengen Winter gibt? Nein, gewiss nicht. Aber in den Pyrenäen oder in den Alpen kann das schon anders aussehen, da schadet Grip auf der Achse sicher nicht. Und den Spaß kann das auch fördern. Mit Schwung in die verschneite Kurve gehen und quer wieder herauskommen – mit einem R16 geht das nicht. Manchmal passiert das mit dem Quertreiben auch eher ungewollt, wenn die Straße ein wenig feucht ist und der Fahrer ein Hunderstel zu schnell. Aber was soll´s, so sehr zu schnell ist Meister Langnase mit dem Cléon fonte im Heck meistens auch wieder nicht. Ein wenig Gegenlenken, und schon summt die Fuhre wieder geradeaus. So geht es auch im kleinen Bruder R8 und in den VW. Und was die können, kann der große 10er sowieso. Mit links.

Motor hinten, Antrieb hinten. So lautet EIN Credo Renaults in den 50er – und 60er- Jahren. Wenn ein VW und ein R8 damit erfolgreich sind, kann das ja nicht so unmodern sein, wie die Leute sagen. Außerdem braucht es ja auch Autos für die Renault-Kunden, die mit den hypermodernen R16 und R4 (Frontantrieb!!) nichts anfangen können.

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Die Version mit Rundscheinwerfern (1965-67).
Foto: Heiko Steffens



Davon soll es, so heißt es, durchaus einige geben in den Sechzigern. Damit die nicht etwa zu Peugeot abwandern (mon dieu!), wirft man den kleinen R8 und Meister Langnase R10 auf den Markt. Revolutionär? Schön? Nennen wir es, besonders im Fall des R10, eigenwillig.

Man möchte ihn in den Arm nehmen und trösten für die Folter, die er auf der Streckbank erlitten haben muss. Die Achsen blieben bei der Streckung von R8 auf R10 stur an derselben Stelle stehen. Nur der Kofferraum (vorne!) und das Heck zogen sich etwas in die Länge. Sehr in die Länge. Der Kofferraum ist in engen Parklücken immer schon längst am Vordermann, wenn das Rad noch fleißig lenkt. Aber wiederum mon dieu, was macht das schon im sowieso beulenreichen Paris oder in der überhaupt nicht engen Provinz. Die Optik, nun ja, die Überhänge… Man kann sicher von gelungeneren Schönheitsoperationen berichten.

Aber, wie heißt es so schön: Die inneren Werte zählen! Und da kann die lange Nase wahrlich glänzen. Ein Gedicht namens Cléon fonte sitzt im langen Heck des 10ers, summt und singt, das es eine wahre Freude ist. Zumeist handelt es sich hierbei um eine sehr milde Rakete mit 1108 ccm und 45 PS, in wenigen Fällen gelangt auch der Power-Block mit 1289ccm und 52 PS zum Einsatz. Sogar mit einer äußerst lässigen, weil äußerst amerikanisch angehauchten Drucktasten-Automatik kann das freundliche singende Motörchen kombiniert werden. Dann rührt der Conducteur nicht mit einem ellenlangen Kochlöffel im entfernten Getriebe herum, sondern drückt ganz laissez-faire auf einen Knopf zu seiner Linken. „A“ wie „allez“ steht dann dort beispielsweise auf einem der Knöpfchen. Das bedeutet eigentlich so etwas wie „auf, auf, hopp“. Mit der Automatik im Rücken wird aus „hopp“ eher „gemach, gemach“, aber Hauptsache, der Komfort passt!     Der treue Cleon ist stets zu Diensten und ist ein Dauerläufer im besten Sinne. Noch 1996 finden sich nahe Abkömmlinge dieses Freundes in neuen Renault-Fahrzeugen. Damit die unbändige Kraft des Cleons dennoch gebändigt werden kann, spendieren die Zehnerle-Bauer ihrem Fuhrwerk Scheibenbremsen rundum. 1965! Untere Mittelklasse! Da sage noch einer, der 10er sei nicht fortschrittlich gewesen. Na ja, vielleicht soll die Kundschaft die Langnase einfach nur leichter wieder stoppen können, wenn die Straße in der Kurve… Sie wissen schon.

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Innenleben: Einen Hauch von Eleganz strahlt die Holz-Optik aus.
Foto: Heiko Steffens

1965 also erscheint der Gestreckte auf dem Markt. In Frankreich nimmt man Notiz von ihm, immerhin. Der geneigte Renault – Käufer erfreut sich über mehr Platz und den vergrößerten Kofferraum, in den jetzt einige Kisten Languedoc mehr hinein passen. Plus Baguette. Großer Kofferraum, war da nicht noch etwas bei Renault 1965?  Richtig, der ultra-moderne R16 erscheint ebenfalls und kann eigentlich alles besser. Das Einzige, was der R16 nicht zur Genüge kann, ist konservativ sein. Und für die wenigen Renaultisten, die ein geräumiges UND konservatives Auto haben möchten – bietet Renault den R10 an. Dass die Käuferzahl sich selbst in seinem Heimatland in überschaubaren Grenzen hält, ergibt sich beinahe automatisch. In deutschen Landen wird der R10 immer nur als automobiles Spurenelement wahrgenommen. Ein Spurenelement, das durch Rostfraß sehr schnell auf ein quasi-Null reduziert wird. Einen R10 in freier Wildbahn? Das ist hierzulande spätestens seit den 80er-Jahren so wahrscheinlich wie eine Marienerscheinung. Die hat zumindest ihre pilgernden Jünger. Der R10 eher nicht. Schade eigentlich! Vive le Numero dix !