Serie: 125 JAHRE RENAULT

125 Jahre Renault - Folge 6: Alpine: Retro oder original? - Pro oder contra?

PRO: Ach, die neue Alpine ist ja so furchtbar groß und fett geworden? Kürzlich mal in den Spiegel geschaut? Beides gilt auch für den Durchschnittseuropäer, der in den letzten 50 Jahren auch mehr als zehn Zentimeter Körperlänge sowie einiges an Bauchumfang zugelegt hat. Und es kommt noch dicker...
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Zugenommen: Die Ur-Version ist deutlich zierlicher. Foto: Renault


Klar, während die alte A110 nur gut 700 kg wog, wuchtet ihre Retro-Version derer 1.103 auf die Waage. Dafür kann man mit ihr bei abrupt ausgehender Straßenbreite aber auch mal gepflegt eine Wand küssen, ohne sofort schwarz gerahmte Zeitungsanzeigen zu riskieren. Während das Original sich eher wie ein nur lustlos getarnter Rennwagen mit Straßenzulassung erschien, verhält es sich beim Enkel genau andersherum. Das ist auch gar nicht verkehrt, denn bereits in der deutlich motorsportfreundlicheren Vergangenheit fand die Flunder zwar Kunden, aber nun auch nicht so viele, als dass Renault hätte das Unternehmen aus Dieppe schließlich nicht in finanziellen Nöten übernehmen müssen. Und wären komfortbefreite Leichtbau-Renner der jetzige Autotrend schlechthin, stünden Lotus, Caterham und Co. im Aktionärsfokus und nicht ein amerikanischer Ankündigungsmeister.
So. Da nun geklärt ist, dass...

...früher eben nicht alles per se besser war, kommen wir nun zu den positiven Seiten von Renaults Retrobemühungen. Das beste zuerst: Der Motor sitzt, da wo er idealerweise hingehört, nämlich hinter den Fahrer. Nicht mehr als Heck- sondern nun als quer verbauter Mittelmotor. Pfui? Nee! Es könnte gewisse fahrdynamische Gründe geben, dass bis auf Porsche alle namhaften Sportwagenhersteller vom Triebwerk hinter der Hinterachse abgekommen sind. Im A110-Duell verschiebt sich die Gewichtsverteilung von 40:60 auf harmonischere 44:56, das Gravitationszentrum exakt zwischen die Sitze. Zudem hatte auf dem Rallyeparkett der Alpine A110 einst ein Mittelmotorbolide den Todesstoß versetzt – der Lancia Stratos. Zurück ins Heute: Das Leistungsgewicht liest sich ebenfalls lecker. In der stärksten Straßenversion 1600 S/SC/SI waren es 5,55 kg/PS, 2018 sind es 4,37 kg. Natürlich stammen die aktuellen 252 PS aus einem 1,8 Liter großen Turbo-Vierzylinder und nicht aus einem Sauger. So liegen aber auch die 320 Nm Drehmoment konstant von 2.000 bis gleich 5.000 Touren an. Und ja, natürlich ist auch die Handschaltung einem Siebengang-Doppelkupplungsgetriebe gewichen. Damals state-of-the-art und heute wieder. So läuft das.OR Alpine A110 05a


"Modern Talking": Die aktuelle Interpretation der Alpine A 110. Foto: Renault


Während die aktuelle A110  den stilistischen Vorgaben ihrer Ahnin im Wesentlichen folgt, sieht es unter dem Blech anders aus – richtig, unter dem Blech: Statt GFK-Kleid auf Stahlrahmen besteht die neue Karosserie zu 96 Prozent aus Aluminium. Die Länge hat angesichts über 50 Jahre Differenz gar nicht mal so üppig um 330 auf 4.180 mm zugelegt, die Breite um maximal 348 auf 1.798 mm, der Radstand um 320 auf 2.420 mm. Am auffälligsten ist zweifelsohne der Höhenzuwachs um höchstens 132 auf 1252 mm – und wahrscheinlich auch der Grund für „zu fett“-Rufe. Viel eher sollte der geneigte Kritiker in sich gehen. Immerhin sind Motor und Antrieb nicht nach vorne gewandert wie bei Beetle oder Fiat 500. Stattdessen hat Renault 19 Jahre nach dem Sport Spider einen Elfhundert-Kilo-Mittelmotor-Sportler zu halbwegs erschwinglichen 54.700 Euro auf die 18-Zoll-Räder gezaubert. Vergleichbare Rivalen? Der 1.020 kg leichte und ab 63.500 Euro erhältliche Alfa Romeo 4C und der mit 1.340 kg deutlich schwerere Porsche Cayman ab 54.717 Euro.
Nett statt fett: Autor Andreas Gaubatz steht auf die Ur-Alpine.

Foto: Oldtimerreporter.Gaubatz.


CONTRA: Renault erinnert sich seiner Motorsport-Tradition. Das ist in Zeiten mangelnden Formel-1-Erfolgs auch dringend nötig. Es läuft nicht so bei den Erfolgsverwöhnten Franzosen. Aber, die Kurve zeigt nach oben. Was waren das noch für goldene Zeiten, als sich die Auftragsbücher in Dieppe und Billancourt quasi von alleine füllten. Was waren das noch für goldene Zeiten, als ein Ove Andersson den Rallye-Sieg einfuhr. Wird die neue A110 gleichsam zur Legende werden, so wie ihre Ur-Ahnin?

Blicken wir zurück. 1962 stellt Jean Rédélé, der Gründer der Sportwagen-Manufaktur Alpine, ein neues Modell vor, das auf der Basis des ebenfalls neuen Renault 8 entstanden ist. Die Alpine A110. Mit ihrem anfänglich 1300 cm³ großen Motor und 115 PS ist sie der Zeit entsprechend kräftig motorisiert. Aus heutiger Sicht eher mager, hat doch mancher Kleinwagen aus heutiger Produktion schon mehr Leistung. Doch 1962 kann man damit sogar Rennen gewinnen. Und das tut die A110 auch. Hier alle Erfolge aufzählen zu wollen ist ein Ding der Unmöglichkeit, doch besondere Erwähnung muss das Jahr 1973 finden.
Nachdem man 1968 die französische Meisterschaft eintütet, danach noch weitere Erfolge feiert, gewinnt Alpine die Rallye Monte Carlo. Und belegt mit der A110 alle drei Podiumsplätze. Dieser erste Lauf der erstmals von der FIA organisierten Rallye-WM führt am Ende zum Gewinn jener Weltmeisterschaft. Und befördert die A110 in den Olymp des Motorsports. Namhafte Gegner wie Fiat, Porsche, Citroen, BMW, u.v.a. haben nicht den Hauch einer Chance gegen die Flunder aus Dieppe. Und die Liste der Alpine-Piloten liest sich wie das Who-is-Who des Rennsports. Die Brüder Mauro und Lucien Bianchi, Gérard Larousse, Jean Vinatier, Ove Andersson, sie, und viele andere mehr, alle zeichnen für den Erfolg mitverantwortlich. Und machen Alpine zur Legende.
Aber hat die neue A110 des Jahres 2017 auch das Zeug zur Legende? Die Antwort vorweg: Nein. Zumindest nicht zum jetzigen Zeitpunkt. Denn wer weiß, was noch alles passieren wird? Dennoch, bei Renault hat man sich alle Mühe gegeben. Man bemüht im Design die Legende, hat viele Stilelemente übernommen. Nur das Heck erinnert eher an Audi als an das legendäre Vorbild. Doch das kann man gnädig übersehen. Die Ausstattung und die Leistung haben allerdings mit der A110 von 1962 so viel zu tun wie die berühmte Kuh mit dem Stricken. Der 1,8er-Motor leistet 252 PS, bei 250 km/h ist Schluss. Aber nur weil man einen elektronischen Riegel vorgeschoben hat. Die Zahl der Assistenzsysteme scheint unendlich, sinnvolles und weniger sinnvolles Elektronik-Zubehör findet man an Bord.
Bleibt die Eingangsfrage: Muss das sein? Diese Frage müssen Renault und letzten Endes der Kunde beantworten. Dass man stilistisch an die Legende erinnert, das ist legitim, Renault spielt gekonnt mit Emotionen. Geschickt. Aber ob man nun die Neue auch A110 nennen musste? Das ist vielleicht etwas Zuviel des Guten. Denn die A110 ist und bleibt die A110. Und zwar die aus dem Jahr 1962. Die, die unzählige Rennen gewann. Die, die Rallye-Weltmeister wurde. Und nur die.